EINE REDE OHNE VERBINDENDE IDEEN

Nach der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 9. November fragen sich viele Menschen, ob seine Worte wirklich geeignet sind, eine auseinanderdriftende Gesellschaft wieder näher zusammenzubringen. Zumindest sollte sie doch dazu inspiriert werden und eine gemeinsame, positive Zukunftsvision entwickeln können. In einer Zeit, die sowieso schon durch Abgrenzungen geprägt ist, kann die Strategie der völligen Ausgrenzung doch nicht plötzlich ein friedliches Miteinander zur Folge haben. Steinmeier scheint es aber zu glauben, was daran liegen könnte, dass er selbst Teil dieser Dynamik ist und nur noch seine eigene Echokammer repräsentiert. Darauf deutet auch der fehlende Applaus von außen hin.

Die Ursache für die gegenwärtige Schieflage sieht Steinmeier vorwiegend auf nur einer Seite. Populisten und Extremisten betreiben dort das Geschäft mit der Angst, führt er aus, und meint damit offensichtlich die AFD. Andere gewaltaffine Extremisten werden nur ganz nebenbei erwähnt, als spielten sie kaum eine Rolle. Gäbe es also keine AFD, würde ein großer Teil der Wähler über Betonsperren, Überwachungskameras und Messerverbotszonen überhaupt nicht weiter nachdenken oder wäre vielleicht sogar dankbar, dass trotz klammer Kassen so ein hoher Aufwand für das allgemeine Sicherheitsgefühl betrieben wird. Deshalb warnt der Bundespräsident vor den „Gegnern der Demokratie“, die damit Ängste schüren und fordert die Bürger auf, wehrhaft gegen Verfassungsfeinde zu sein.

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Steinmeier malt sich aus, dass die abgedrängten Leute wieder auf das demokratische Spielfeld zurückkehren und womöglich sogar die SPD wählen, wenn sie merken, nicht Landrat, Bürgermeister, Richter oder Lehrer werden zu können. Die aktiven Demokraten müssten aber im Parlament, beim Fußball, am Stammtisch, in der Schule, an der Bushaltestelle und am Arbeitsplatz ihren Mund aufmachen.

Ein entscheidendes Detail übersieht der Bundespräsident allerdings. Es gibt mittlerweile völlig unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit und Demokratie. Wer sich von den den etablierten Parteien abwendet, hat mitnichten das Gefühl, die gesellschaftliche Mitte zu verlassen und ein Antidemokrat zu sein. Aus Sicht dieser Wähler haben nämlich die alten Parteien eine neue Mitte definiert und ändern die Spielregeln der Demokratie nun zu ihrem Vorteil.

Weil Steinmeier in längst überkommenen Schemata denkt, was seine Phrasen und Gegenüberstellungen deutlich zeigen, kann seine Methode nicht zu einer Besserung der Situation in Deutschland führen. Verärgerte Bürger, die sich abwenden von Leuten, welche in rot-grüner Politik die einzige Ausgestaltungsmöglichkeit für eine Demokratie sehen, von Leuten, die sich dafür feiern lassen, auf der richtigen Seite zu stehen, haben gar kein Bedürfnis mehr, dorthin zurückzukehren.

Es reicht eben nicht aus, gut und böse so zu definieren, dass man selbst auf der guten Seite steht, um der Menge dann zeigen zu können, wem sie sich entgegenstellen soll. Wünschenswert wären Ideen für eine Zukunft ohne Barrieren, ohne Waffen und ohne permanente Überwachung gewesen — eine Zukunft, die auf Vertrauen und Zuneigung basiert. Aber dafür wäre gerade dort reflexives Denken nötig, wo man besonders überzeugt ist, für die Demokratie zu kämpfen.

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