WAS MAN IM ÖRR NORMALERWEISE NICHT ZU SAGEN WAGT

Beim Kabarett werden in heiterer Stimmung bekanntermaßen gern auch Dinge ausgesprochen, die man sonst lieber für sich behält. Ein kritischer Blick auf die Politik und gesellschaftliche Phänomene, Polemik und Satire gehören also zum Programm. Was allerdings am 24. Mai 2023 um 21.55 Uhr im Deutschlandfunk gesendet wurde, gibt Rätsel auf. Wurde hier zum Rundumschlag ausgeholt, einfach nur auf Kuriositäten und Widersprüchlichkeiten unserer Zeit aufmerksam gemacht, oder handelt es sich um Spitzen in eine ganz bestimmte Richtung, die aber nur hochintellektuelle als solche erkennen können?

In der Sendung „Querköpfe“ brachte der Deutschlandfunk einen Mitschnitt von der Kabarettpreisträgerveranstaltung „Salzburger Stier 2023“ aus dem Linzer Posthof. Dort war am 6. Mai 2023 Mathias Tretter als deutscher Preisträger aufgetreten. Auch in anderen ÖRR-Programmen wie dem WDR waren Auszüge zu hören.

Tretter sieht immer mehr Menschen auf einem Glaubensweg, obwohl sie gar nicht gläubig sind. Der Künstler fragt sich, was passiert wäre, wenn das Corona-Virus in seiner Kindheit zugeschlagen hätte — unter Bundeskanzler Helmut Schmidt. Und er vermutet:

„Ich glaube, wir hätten nie davon erfahren. Der Feldökonom und Wehrmachtsveteran hätte doch niemals Deutschlands Wirtschaft gefährdet — wegen einer banalen Mikrobe, an der weniger Menschen sterben als am Rauchen.“

Tretter parodiert den früheren Bundeskanzler, wie er zu der Feststellung gelangt, dass ein Lockdown überflüssig ist, und zieht Vergleiche mit China: Während die Kommunisten dort den Neoliberalismus befeuern und keinen einzigen Gedanken an das Proletariat verschwenden, ist die SPD in Deutschland immer noch auf der Suche nach der Arbeiterklasse — in der Hoffnung, sie nicht zu finden. „Die wissen überhaupt nicht mehr, wen sie noch vertreten“, so der Kabarettist. Es reiche nicht, kein Angebot zu haben. Man müsse auch unfähig sein, es zu verkaufen — und zwar an eine Kundschaft, die es nicht mehr gibt. Das würde der Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus heute sagen, wie Tretter meint und entsetzt nachschiebt: Und ausgerechnet diese SPD stellt dann mit nichteinmal 26 % den Bundeskanzler. Die damalige Kundschaft, stellt er fest, ist heute die Unterschicht.

Außerdem teilt er gegen die Generation der postadoleszenten 20 bis 30-Jährigen aus, weil die sich offenbar immer mehr als Sittenwächter betätigt: Moral-Apostel war einmal ein Schimpfwort; mittlerweile ist es eine Auszeichnung. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis es Mindestanforderung ist und ein Moral-Nachweis verlangt wird, wenn man sich irgendwo bewirbt. Bei den dreißigern sieht Tretter inzwischen ein Furor wie in den dreißigern lodern, zumal da sich immerhin 40 % der Millennials für eine Einschränkung der Redefreiheit zu Gunsten von Minderheiten aussprechen. Wer eine Minderheit ist, legen natürlich auch sie fest. Und wenn jemand twittert „der muss weg“, fragt sich Tretter, wo dieses „weg“ eigentlich ist. Früher ging es nur um die Gesetzestreue, und heute ist die Moral wichtig, stellt er fest und meint, dass auch hier immer mehr Leute davon träumen, die Moral zu überwachen, zum Beispiel mit einem Punktesystem wie in China, das er mit dem Smarthome und den vielen Vernetzungen sowieso kommen sieht.

Will sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk einfach nur vielfältig, ausgewogen und zugleich kritisch zeigen? Vielleicht hat er seinem Publikum über das Kabarett auch unbewusst mitgeteilt, was derzeit unter den Gläubigen in den Studios vor sich geht, wenn sie langsam zu zweifeln beginnen und merken, dass vieles abseits der Bühne ebenfalls reine Satire ist.

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