DIE ZUNEHMENDE GEFAHR INNERER UNRUHEN

Wenn gesellschaftliche Ungleichgewichte und Misstrauen zunehmen, lösen sich bestehende Konventionen auf. Politische Konflikte können bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen eskalieren.

Zeiten größtmöglicher Freiheiten sind in der Regel nicht von unendlicher Dauer. Wie die Geschichte zeigt, münden sie früher oder später im Chaos, wodurch das Verlangen nach Ordnung entsteht. Mit der sich verschlechternden Lebenssituation entbrennt ein Streit darüber, welche Art von Ordnung, welches System die Zukunft bestimmen soll.

Im Wesentlichen bilden sich zwei Strömungen heraus, die sich immer weiter voneinander entfernen. Die Gegensätzlichkeiten sind ein Resultat unterschiedlicher Vorstellungen von Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung, Kapitalverteilung und allgemeiner Wohlstand. Darf sich der konstitutionell und materiell Bevorteilte entsprechend seinen Möglichkeiten weiterhin frei entfalten oder muss er einen größeren Beitrag für die benachteiligten, zurückgebliebenen und weniger ambitionierten Menschen leisten? An dieser Frage entscheidet sich, wie die Vermögen in einer Gesellschaft verteilt sind, und wer überhaupt als Mitglied der Gesellschaft anerkannt wird.

Wachsende Ungleichgewichte, die eine Rückkehr zum gewohnten Zusammenleben unmöglich machen, drängen zur Entscheidung. Doch ab einem gewissen Punkt kann die eine Strömung ihren Weg nur noch dann fortsetzen, wenn die andere nicht mehr existiert, während die langsam zerbröselnde alte Ordnung immer größere Existenzängste auslöst und den Handlungsdruck erhöht.

Beide Lager haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine entstandene Ungerechtigkeit wieder rückgängig zu machen. Jeder sieht sie aber woanders, was ausschlaggebend für die Zukunftsvision ist. Sollen alle Menschen annähernd dasselbe besitzen und dieselben Möglichkeiten haben, obwohl sich jeder mit ganz unterschiedlichen Kräften in das System einbringt?

Es werden Grenzen gefordert — die einen wollen sie für Vermögen, die anderen für den sozialen Bereich. Was die Anhänger der Popularen als gerecht empfinden, ist für die Optimaten ungerecht. Sie fühlen sich beraubt und ausgebremst. Währenddessen nimmt das Vertrauen in die Politik ab. Jede Seite wirft der anderen Täuschung vor, und etwas anderes anzustreben, als vorgegeben wird. Ein Streit um die richtige Deutung entbrennt. Mit der Verwirrung wächst das Verlangen nach klaren, unmissverständlichen Botschaften. Wer sie auf sich wirken lässt und bislang nur Aversionen gegenüber seinen politischen Gegnern hegte, wird zur Abwehr ermuntert.

Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit nimmt zu. Sozial egalitäre und marktliberale Kräfte sind nicht mehr zusammenzubringen. Es werden Feindbilder gezeichnet. Am Ende kann die Lebensvorstellung der einen Seite nur mit Gewalt gegenüber der anderen durchgesetzt werden, weil diese mit gleicher Vehemenz für ihre Überzeugungen kämpft. Angezehrt von der Krise, geben sich immer mehr Menschen der Vision ihrer Bewegung hin und verabschieden sich dabei von früheren gesellschaftlichen Konventionen. Entscheidende Vorstufen für die auf den ausgelebten Unmut folgende Staatsform sind damit bereits vorhanden.

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